Stufen
Die Jahreswende ist
die Zeit, wo manche von uns eine Zäsur machen. Wir möchten etwas in
unserem Leben verändern und meinen mit guten Vorsätzen könnten wir etwas
bewirken. Die guten Vorsätze betreffen ja nur einen kleinen Teilbereich
unseres Lebens. Die Veränderungen in unserem Leben kommen ganz von
selbst. Oft arbeiten wir dagegen und lassen die Veränderung nicht zu.
Andererseits wünschen wir uns Veränderung.
Wenn wir eine Haltung
einnehmen können, die besagt, dass unser Leben aus Veränderung besteht
und wir bereit sind, den Schmerz und auch die Freude der Veränderung
zuzulassen, dann brauchen wir keine guten Vorsätze, dann leben wir im
Fluss des Lebens.
Hermann Hesse hat das
sehr schön in seinem Gedicht „Stufen“ niedergeschrieben. Ursprünglich
sollte das Gedicht „Transzendenz“ heißen.
Wie jede Blüte
welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede
Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer
Zeit und darf nicht ewig dauern.
Ich bin froh, dass
vieles nicht ewig gedauert hat, dass ich auch nicht meine Jugend
festhalten möchte und dass ich in der jetzigen Zeit Dinge erleben darf,
die ich in meiner Jugend nicht erleben hätte können, weil ich einfach
nicht reif genug war. Ich kann Menschen nicht verstehen, die meinen,
ewige Jugend sei ein erstrebenswertes Ziel.
Es muß das Herz
bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um
sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu
geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt
und der uns hilft, zu leben.
Ein Neubeginn ist
immer auch ein Abschied von altem gewohntem. Hesse spricht hier auch das
Herz an. Das Herz, meine Leidenschaft oder auch nur meine Gewohnheit
hängt an dem alten Bekannten. Und von dem alten muss ich mich
verabschieden, damit ein Neubeginn ermöglicht wird. Das Alte hat mich
eine gewisse Zeit getragen.
„um sich in Tapferkeit und ohne
Trauern in andre neue Bindungen zu geben“. Hesse schreibt von
neuen Bindungen. Was bedeutet „neue Bindungen“? Wenn wir uns verändern,
dann begegnen wir z.B. anderen Menschen und wir können mit diesen
Menschen „neue Bindungen“ eingehen in Form von Bekanntschaften oder
Freundschaften oder evtl. auch Partnerschaften. Gerade in bestehenden
Partnerschaften kommen Konflikte hoch, wenn nicht beide Partner bereit
sind, die Veränderungen des Lebens anzunehmen. Jetzt motiviert uns Hesse
für den Neubeginn, indem er sagt:
„Und jedem Anfang wohnt ein
Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben“.
Hesse geht jetzt noch
weiter. Er meint, dass wir Lebensstufen durchschreiten und wir nicht
irgendwo hängen bleiben sollen.
Der Weltgeist will nicht fesseln
uns und engen,
Er will uns Stuf' um Stufe heben, weiten.
Kaum sind
wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht
Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag
lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Hesse sagt auch, dass der
Weltgeist uns nicht fesseln will, sondern uns heben. Weltgeist wird auch
als Synonym von Weltseele oder Weltbewusstsein gesehen. Also etwas
„Höheres“ was uns führt und es gut mit uns meint, indem es unsere
Weiterentwicklung unterstützt. Die Gefahr, die lauert, ist das
Erschlaffen. Deshalb sollen wir immer bereit zum Aufbruch, zur
Weiterentwicklung sein.
Hesse sieht unsere Aufgabe im Leben zu
wachsen. Alles was wir durchschreiten dient unserem Wachstum. Sobald wir
uns an etwas gewöhnen, droht Stillstand in unserer
Entwicklung.
Es wird vielleicht
auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen
senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden ….
Wohlan denn,
Herz, nimm Abschied und gesunde!
Sogar die Todesstunde ist
nicht das Ende unserer Entwicklung. Vielleicht öffnen sich nochmals neue
Räume? Der Abschied scheint für Hesse etwas zu sein, das unser Herz
gesunden lässt. Und genau das ist es, was in unserer Vorstellung oft
sehr schmerzhaft ist.
Vielleicht sollten wir unsere Absichten für das
neu Jahr daraufhin ausrichten, wovon wir uns verabschieden wollen! Es
könnte unserem Herzen gut tun.
Hermann
Hesse: Stufen
Wie jede Blüte
welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede
Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer
Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem
Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in
Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und
jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns
hilft, zu leben.
Wir sollen heiter
Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat
hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will
uns Stuf' um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem
Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur
wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich
entraffen.
Es wird vielleicht auch noch
die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens
Ruf an uns wird niemals enden...
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und
gesunde!