Geschichten

Seit einigen Jahren schreibe ich kleine Geschichten. Die meisten Geschichten könnten sich so im Leben zugetragen haben und berühren meine Seele sehr.

Winfried
Januargeschichte 
Gabriel
Alles ist gut so wie es ist
Silvestergeschichte 
Für Andere da sein
Der traurige Junge

Winfried

 Winfried mit einem Wort zu beschreiben ist einfach. Er strahlt das bereits aus, was er ist. Ganz einfach korrekt. Sein Haar ist immer korrekt frisiert, sein Anzug immer sauber und faltenfrei, sein Gesicht natürlich immer rasiert und seine Schuhe immer geputzt.

Sein Gesicht, mit einer leichten Bräune unterlegt, gibt ihm ein besonders gutes Aussehen. Er weiß das und das gibt ihm auch Sicherheit. Auch seine Ansichten könnte man als korrekt bezeichnen. Er liest regelmäßig die Tageszeitung und einmal in der Woche die Zeit. Politisch ist er informiert und er weiß sich in Diskussionen mit seinen Freunden zu positionieren. Eine Meinung neben dem Mainstream könnte er nie annehmen. Er orientiert sich an den Meinungen der guten Presse und das findet er wertvoll. Auch seine Meinung über Frauen ist korrekt. Jede Frau soll sich genau so im Beruf profilieren können wie der Mann. Und hätte er Kinder, dann würde er sich mit seiner Frau die Erziehung teilen. Aus guten Gründen hat er auf Kinder verzichtet. Er findet es verantwortungslos gegenüber den Kindern, in eine Welt hineingeboren zu werden, wo soviel Unsicherheit herrscht. Bei seiner Meinung über Kinder hat seine Stimme nicht die Kraft, wie wenn er über die Steuerpolitik der Regierung sprechen würde. Wer Winfried schon lange kennt weiß, dass das ein sehr heikles Thema für ihn ist und dass er sich nie darüber auf eine Diskussion einlässt. Er unterbindet die Diskussion immer mit den Worten: „Kinder kosten viel Zeit und Geld. Beides haben wir nicht“ und „Die Welt heute ist nicht für Kinder geeignet“. Seine Frau hat sich damit abgefunden, da sie genau weiß, dass sie bei einer Widerrede nur einen Streit entfachen würde. Sie hatte das schon mehrfach erlebt. Winfried geht dann einfach aus dem Haus und kommt spät abends erst wieder. So wie er dann aussieht und riecht, entspricht nicht mehr dem korrekten Bild des Winfried, wie ihn alle kennen. Diesen Teil von Winfried kennt nur seine Frau.

 Jetzt ist genau das eingetreten, wovon Winfried wusste, dass es irgendwann einmal kommen würde. Aber bisher war das immer so weit weg und wenn diese Gedanken dann doch mal kamen, schaute er in den Spiegel, kämmte sein Haar und fühlte sein rasiertes Gesicht. Dann waren die Gedanken wieder verflogen. Aber heute hat ihn die Wirklichkeit eingeholt. Seine Frau rief ihn im Geschäft an und teilte ihm mit, dass sein Vater im Sterben liege und dass es sein Wunsch wäre Winfried zu sehen. Winfrieds hellbrauner Teint verwandelt sich in eine fahle Blässe, sein Atem stockte und seine Beine fingen an zu wackeln. Er setzte sich, den Telefonhörer am Ohr, aber er brachte kein Wort hervor. Seine Frau am anderen Ende der Leitung machte sich große Sorgen und schrie „Winfried bist du noch da?“. Als er wieder aufblickte und sein aufgeräumtes Büro sah, das Bild an der Wand exakt ausgerichtet und der Papierkorb leer, fand er wieder zu seiner alten Fassung zurück. Ich mache mich auf den Weg, flüsterte er in einer etwas raueren Stimme als üblich ins Telefon.

 Als er sein Auto bestieg, kam ihm der Gedanke „wie gut dass ich gestern Abend noch durch die Waschstraße gefahren bin“. Das gab ihm ein beruhigendes Gefühl, das er jetzt unbedingt brauchte. Allein das Wort Vater, das er durch das Telefon hörte, ließ bei ihm alle die Gefühle hochkommen, die er glaubte fest im Griff zu haben. Eine leichte Übelkeit stellte sich bei ihm ein. Irgendwie war er sogar froh, da dadurch seine aufsteigende Wut gebremst wurde. Er wusste, jetzt musste er den Weg ins Krankenhaus gehen. Aber dazwischen sind noch zweihundert Kilometer Autofahrt. Also noch mehr als zwei Stunden Zeit. Die Erinnerungen an seine Kindheit kamen mit einer solchen Wucht auf ihn zu, dass ihm zeitweise die Straße wie im Nebel vorkam. Als er im Krankenhaus ankam, zitterten ihm die Knie. In der Eingangshalle erkundigte er sich bei der Dame an der Information wo denn Winfried Bockdorf läge. Wie ein Messer in der Brust spürt er den Schmerz. Ihm wird gerade nochmal bewusst, dass er den Vornamen seines Vaters trägt und das schon seit fast vierzig Jahren. Gedanken kreisen ihm durch den Kopf. Am liebsten wäre er wieder gegangen. Aber wohin? Reiß dich zusammen Winfried Junior schießt es ihm durch den Kopf. Das waren oft die Worte seines Vaters, wenn er hingefallen ist oder mit dem Kinderfahrrad gestürzt ist. Und diese Lektion hat er gelernt. Er konnte sich noch so weh tun, es kam keine Träne mehr über sein Gesicht.

Jetzt war er wieder ganz gefasst. Er kannte seinen Vater immer nur mit einem grimmigen Gesicht und überlegte, ob er ihn überhaupt erkennen werde und wie alt er jetzt genau ist weiß er auch nicht mehr. Vor der Tür zum Krankenzimmer atmetet er nochmal tief durch und fasste mit seiner Hand ganz bewusst die Klinke der Tür. Sein Herz klopfte heftig, weil er beim besten Willen keine Vorstellung darüber hat was jetzt auf ihn zukommt. Zum Glück lag nur eine Person im Krankenzimmer, so dass damit geklärt war, dass es nur sein Vater sein kann. Die Krankenschwester kam gleich hinterher, hob die Rückenlehne des Bettes an und sagte zu Winfried: „Ihr Vater kann nicht mehr reden, aber verstehen tut er alles“. Das war ein weiterer Schock für Winfried. Was sollte er jetzt mit ihm reden? Der Vater winkte ihn heran und seine Handbewegungen zeigten, dass er wünscht, dass sich Winfried mit dem Stuhl neben sein Bett setzen soll. Winfried gehorchte wie in Trance. Im Bett lag ein alter Mann mit ganz sanften Zügen im Gesicht. So hat ihn Winfried noch nie gesehen. Er glaubte auch in seinen Augen Tränen zu erkennen. Als dann der Vater seine Hand nahm und sie zwischen seinen beiden Händen hielt, war es um Winfried geschehen. Mit seiner Beherrschung war es jetzt vorbei. Tränen flossen aus seinen Augen wie Bäche. Es war so, als ob alles unterdrückte Weinen seiner Kindheit jetzt nachgeholt wird. Die Tränen flossen über sein Gesicht auf sein Hemd und auch seine immer faltenfreie Hose bekam einiges ab. Für Winfried war das alles plötzlich völlig unwichtig. Sein Blick war nur auf seinen Vater gerichtet, der ihn mit glänzenden Augen anschaute. Winfried hatte kein Zeitgefühl mehr. Waren es fünf Minuten oder zwei Stunden als der Überwachungsmonitor einen Dauerton von sich gab und die Krankenschwester hereinstürzte. Winfried wurde jetzt bewusst, dass er seinen Vater in den Tod begleitet hat. Er war aber auch nicht traurig, fast könnte man sagen glücklich oder zumindest völlig gelöst mit Tränen im Gesicht. Noch ein letztes mal berührte er die Stirn seines nun toten Vaters und hauchte nur das eine Wort „danke“.

Das Handy schaltete Winfried aus und fuhr in Richtung Heimat. In den zweieinhalb Stunden Fahrt ging ihm noch viel durch den Kopf, aber allein die Zeit die er neben seinem Vater saß war für ihn so berührend, dass wieder die Tränen flossen. Es machte ihm überhaupt nichts aus dass alles nass wurde und als er zu Hause ankam befürchtete seine Frau schon das Schlimmste. Er kam ihr mit Krawatte auf Halbmast, offenem Hemd und feuchter Hose entgegen. Sie kannte das von seinen Ausrastern, wenn er einfach die Wohnung verließ. Aber diesmal war es ganz anders. Winfried nahm sie in den Arm und flüsterte ihr ins Ohr: „Wie viele Kinder wünschst du dir"?

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Januargeschichte

Wenn Elke in ihrer 2-Zimmerwohnung sich zu ihrem täglichen Spaziergang bereit macht, dann ist es für sie wichtig, dass der warme gefütterte Mantel, ihr Schal und ihre Handschuhe bereit liegen. Als Kopfbedeckung nimmt sie ihre warme Wollmütze. Die Kopfbedeckung hat für Elke eine so große Bedeutung erreicht, dass sie darin eine richtige Sammelleidenschaft entwickelt hat. Einen eigenen Schrank mit ganz vielen Fächern hat sie sich für alle ihre Mützen eingerichtet. Es sind nicht nur Mützen für Frauen darin zu finden, nein genau die Hälfte der Mützen sind Männermützen. Nur Frauen- und Männermützen. Keine Kindermützen. Wenn Elke dann die beiden Flügeltüren öffnet und einen Schritt zurück tritt, dann hat sie ihre komplette Sammlung wohlgeordnet vor sich. Links die Frauenmützen, rechts die Männermützen. Dieser freie Blick auf ihre Mützen gibt ihr das gute Gefühl alle Stürme zu überstehen. Und sie hat mit ihren 68 Lebensjahren schon viele Stürme überstehen müssen. Diese Sicherheit eines immer warmen Kopfes lässt in ihr ein Gefühl von Geborgenheit aufsteigen. Es kann ihr nichts passieren, egal was geschieht. Wer von ihren Geschwistern, Nichten oder Neffen ihr eine Freude machen will, schenkt ihr eine Mütze. Und die Freude von Elke ist wirklich echt. Auf dem weihnachtlichen Gabentisch landen dann die Päckchen von ihren lieben Verwandten. In diesem Jahr sind es fünf kleine Päckchen. Sie werden nicht geöffnet. Es ist auch nicht notwendig, da sie inzwischen genau weiß was sie enthalten. Jetzt kommt für Elke der zweite Teil der weihnachtlichen Bescherung. Nach den Feiertagen macht sie sich auf und ergänzt die fünf Päckchen mit weiteren fünf Päckchen. Es sind jetzt zehn mit schönem Weihnachtspapier verzierte Päckchen unter dem Weihnachtsbaum. Mitten unter den vielen Päckchen steht das Bild ihres Vaters, eines feschen jungen Mannes in Uniform. Es ist das letzte Bild ihres Vaters, der aus dem Russland Feldzug nicht mehr heim kam. Mit einem Lächeln auf den Lippen blickt Elke auf ihren Vater und flüstert ganz leise: „Bei mir brauchst du nicht frieren“.

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Gabriel

Eigentlich ist der Dezember für Gabriel nicht mit Stress verbunden. Das Geschäftsjahr hat schon im Oktober begonnen, die Planungen für das nächste Jahr sind schon längst abgeschlossen, die Boni, die im Dezember ausbezahlt werden sind auch schon vor Monaten festgelgt worden, die Mitarbeiterzahl bleibt gleich - zumindest für dieses Geschäftsjahr, die Gewinnerwartung steigt wieder. Dieser Monat ist für ihn ein Erntemonat, wo seine Leistungen und sein Einsatz für die Firma sichtbar und spürbar werden. Gabriel wird von alles Seiten gelobt und geehrt und er verteilt Lob und Ehre an seine Mitarbeiter.

Er sitzt an seinem blitzblanken Schreibtisch im nordischen Design, der Cappuccino steht immer um die selbe Zeit an der rechten Schreibtischecke. Ein richtiges Wohlgefühl kommt bei ihm auf. Nicht an morgen denken, einfach das Heute genießen, keine Sorgen umgeben ihn, das Haus ist bestellt. Er greift zur Tasse, es ist ein ganz selbstverständlicher Griff an die rechte Tischkante. Jeden Tag der gleiche Handgriff und jeden Tag freut er sich auf den Geruch und den Genuss. Einfach abschalten für einige Minuten, einfach so sein dürfen und nur Kaffee trinken und sonst nichts. In geübter Manier führt er die Tasse an den Mund und freut sich auf den Milchschaum, bei dem bereits der Kaffee durch schmeckt. Das ist es gerade was er so liebt, nicht ganz Milch und nicht ganz Kaffee.

Als die Tasse seinen Mund berührt und der Milchschaum auf seine Zunge fließt und das freudige Erwarten in ihm hochsteigt, zuckt er mit der Hand und fast hätte er sich den ganzen Inhalt der Tasse über seinen dunkelblauen Anzug geschüttet. Nur Milchschaum, kein Kaffee, eine wässrige Milchbrühe. Wut steigt in ihm hoch. Ein Gefühl das er gar nicht kennt. Er, der immer souveräne Manager, der von allen Seiten hoch geschätzt wird, den nichts aus der Fassung bringt, gerät wegen so einer Lappalie in solch starke Gefühlsregungen. Er schreit nach Henriette, aber sein Ruf bleibt ungehört. Sie hat heute nachmittag freigenommen. Weihnachtseinkäufe hat sie gesagt. Gabriel kocht innerlich immer noch. Er ist mit seiner Wut ganz allein, niemand ist in der Nähe. Wenn jetzt wenigstens Henriette da wäre. Sie kennt ihn am besten und würde sich wahrscheinlich auf seine Wut einlassen und die Schuld alleine auf sich nehmen, so dass er sich wieder beruhigen könnte. Aber nein, gerade jetzt ist er ganz allein. Sein Gesicht ist in diesen Minuten sehr gealtert. Er ist ja so stolz, dass er mit seinen 55 Jahren noch auf Ende 40 geschätzt wird. Und jetzt erkennt er sich im Spiegel selbst nicht mehr. Tiefe Stirnfalten, nach unten auslaufende Mundwinkel und hervorquellende Augen. Das ist doch nicht mehr der Gabriel, der Vorbild für seine Mitarbeiter ist und auf den seine Frau so stolz ist. „Ich mache das alles nur für euch“, war immer seine Antwort, wenn sich seine Frau Annette darüber beschwert, dass er nie zu Hause ist. Seine Kinder sollten es einmal viel besser haben als er, das war seine tiefste Überzeugung und er dachte dabei an seine eigene Kindheit.

Sein Vater hätte fast die ganze Familie ruiniert mit seinem Verhalten. Ja ein richtiger Säufer war er! Er hat sich fast zu Tode gesoffen und hätte uns am liebsten verhungern lassen. Gabriel schaut auf das Familienfoto auf seinem Schreibtisch. Er legt Wert darauf, dass zwei Fotografien auf seinem Schreibtisch stehen. Ein Foto mit seiner eigenen Familie, er und seine Frau mit den beiden Jungs. Daneben in etwas kleinerem Format das Bild mit seiner Mutter und seinem Vater sowie seiner Schwester. Der Blick auf den Vater lässt ihn noch mehr in Rage geraten und er spricht ihn auf dem Bild in seiner Wut direkt an: „Du hast meine Mutter mit deiner Sauferei umgebracht, ich könnte dich...“. Aber da hält er inne. Sein Kopf beugt sich auf den Schreibtisch und Gabriel schluchzt und schreit immer lauter „warum?, warum?“. Er war zwanzig, als seine Mutter verstorben ist. Ihr zu liebe hat er gelernt und gelernt und Entbehrungen auf sich genommen. Für Freunde hatte er wenig Zeit. Er hat sich so fest vorgenommen einmal ganz viel Geld zu verdienen und dann könnte er seiner Mutter ein schönes Haus bauen worin sie sich sorgenfrei bewegen kann. Er würde sie dann immer besuchen, wenn er in das Dorf käme und sie wäre so stolz auf ihren Gabriel. Dass sie das nicht mehr erleben konnte, macht ihn am meisten traurig. Die Ärmel seiner dunkelblauen Anzugjacke sind schon ganz durchnässt. Wie ein Wasserfall stürzen die Tränen aus seinen Augen. Es hat den Anschein, als ob jetzt alle in ihm angestauten Tränen der letzten 35 Jahre aus ihm herausquellen. Als er wieder aufblickt fühlt er sich ganz fremd in seinem Büro. Noch ganz benommen geht er zu seinem Kleiderschrank im passenden Design zum Schreibtisch, holt seinen Mantel heraus und verlässt sein Büro.

Auf dem Flur in Richtung Aufzug begegnet ihm Henriette, die es nicht lassen kann und doch noch ins Büro zurückkommt. „Geht es Ihnen gut“? fragt sie Gabriel. Er hat jedoch keinen Blick für sie und verschwindet im Treppenhaus. Die vielen Stufen vom fünften Stock zur Tiefgarage tun ihm gut. Er spürt seinen Körper wieder und sein Kopf kann wieder klarer denken.

Er geht gezielt schnellen Schrittes zu seinem Firmenwagen und macht sich auf den Weg nach Hause. „Du schon da“? fragt Annette ganz verwundert, als er zur Tür hereinkommt. Er geht auf sie zu, nimmt sie ganz fest in den Arm und sagt leise: „Das wird in Zukunft öfters so sein“.

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Alles ist gut so wie es ist

Ein Sultan machte mit seinem Großvisier regelmäßig einmal im Jahr eine Reise in die Welt und suchte nach Lebensweisheiten. Als es wieder Zeit wurde und die Reise losgehen sollte, wurde der Sultan von Räubern überfallen und an der Wange verletzt. Er konnte nicht mit auf die Reise gehen und schickte seinen Großvisier alleine weg um nach Weisheiten zu suchen.

Nach einem Monat kam der Großvisier des Sultans zurück. Der Sultan war schon sehr neugierig, was er denn für neue Weisheiten bringen würde. Der Großvisier sagte nur: „Alles ist gut so wie es ist“. Der Sultan verstand nicht richtig und fragte nochmal. Der Großvisier antwortete wieder: „Alles ist gut so wie es ist“. Der Sultan wurde wütend und schrie seinen Großvisier an. Doch dieser antwortete immer nur „Alles ist gut so wie es ist“.

Jetzt riss dem Sultan der Geduldsfaden und er ließ seinen Großvisier in den Kerker werfen. Als der Sultan wieder genesen war, machte er sich selbst auf die lange Reise um nach Lebensweisheiten zu suchen. Nach langer Zeit kam er in das Land der Menschenfresser. Dort wurde er schnell als Eindringling erkannt und als willkommene Abwechslung auf der Speisekarte begrüßt. Dem Sultan wurde Angst und Bange. Die Menschenfresser nahmen ihn gefangen und zogen sich zu einer Beratung zurück. Der Sultan erkannte jetzt, in welche Lage er sich gebracht hatte und schloß insgeheim bereits mit seinem Leben ab. Dann kam der Stammeshäuptling der Menschenfresser auf den Sultan zu und verkündete ihm, dass er schnellstmöglich dieses Land verlassen solle. Er sei hier nicht erwünscht, da dieser Stamm nur frisches unverletztes Fleisch esse. Der Sultan ließ sich das nicht zweimal sagen und verließ auf der Stelle dieses Land und ritt Tag und Nacht und gönnte sich nur die nötigsten Pausen um möglichst schnell wieder zu Hause zu sein.

Daheim angekommen begab er sich sofort in das Verließ, wo er seinen Großvisier hinbringen ließ und gab ihm die Freiheit wieder. Er entschuldigte sich bei ihm, dass er diese Weisheit nicht verstanden habe. Aber jetzt hat er wirklich gespürt was es bedeute. Der Überfall der Räuber, die ihn verletzt haben, hat ihm letztendlich das Leben gerettet. Sein Großvisier sagte nur: „Alles ist gut so wie es ist“. Da fragte der Sultan: „Was hat es denn für einen Sinn, dass ich dich einsperren ließ“? Sein Großvisier antwortete nur: „Alles ist gut so wie es ist“. Wenn du mich nicht einsperren ließest, dann wäre ich mit dir geritten. Das hätte mich bei den Menschenfressern das Leben gekostet. Da ich jedoch hier im Verließ hockte, war ich keiner Gefahr ausgesetzt.

(Diese Geschichte hat mir eine Freundin, die Ulrike erzählt)

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Silvestergeschichte

wie jedes Jahr nehmen sich Manuela und Albert zum Jahreswechsel etwas vor. Es ist schon Tradition geworden, dass die guten Vorsätze gemeinsam vereinbart werden. Im letzten Jahr hatten sie beschlossen, dass sie sich gesünder ernähren wollen und durch regelmäßige Bewegung ihren Fitnesslevel erhöhen. In den Jahren davor waren es auch gemeinsame Vorhaben. Überhaupt spielt das Gemeinsame bei ihnen eine ganz wichtige Komponente. Im Freundeskreis gelten sie als ein ideales Paar, da sie immer gemeinsam auftreten und sich auch immer wieder liebevolle Blicke zuwerfen. Sie sind jetzt schon mehr als zehn Jahre zusammen und sie wünschen sich nichts sehnlicher, als dass sie bis zum Ende ihres Lebens zusammenbleiben können. Es wäre für die beiden unvorstellbar sich zu trennen, denn ohne den anderen zu leben, das geht gar nicht. Allein der Gedanke daran löst bei beiden schon fast Panik aus.

Aber in diesem Jahr war alles ganz anders. Das befreundetes Paar, mit dem sie jedes Jahr Silvester feierten, hat sie beide zur Silvesterparty eingeladen und auch noch weitere Paare, die sie noch nicht kannten. Manuela und Albert war das gar nicht so recht. Sie wurden überrascht. Eigentlich dachten sie, dass sie wie jedes Jahr mit dem befreundeten Paar den Jahreswechsel feiern. Einmal bei ihnen zu Hause und dann wieder bei den Freunden. Eine gute Tradition, wo alle wussten was auf sie zu kam und wo sie mit ihren Freunden auch das alte Jahr in einer vertrauten Offenheit nochmal Revue passieren lassen konnten. Am liebsten hätten sie sofort wieder umgedreht und wären nach Hause gefahren. Aber das ging nicht, da sie zum einen auch nicht unhöflich sein wollten und andererseits auch schon von den Freunden und anderen Gästen mit einem lauten Hallo empfangen wurden. Man begrüßte sich mit dem Vornamen und somit war das vertraute Du auch schon hergestellt. Manuela und Albert rückten enger zusammen. Sie konnten sich aufeinander verlassen, denn sie spürten sofort was der Andere im Moment braucht. So viele neue und unbekannte Paare, das war aber nicht fair von ihren Freunden, dachten jetzt beide in diesem Moment. Sie brauchten es nicht auszusprechen, ein Blick in die Augen des Anderen genügte.

Und noch etwas war für die beiden ganz neu. Die Gastgeber luden alle Gäste nach dem üppigen Mahl zu einem Spiel ein. Ganz wichtig hatte es der Gastgeber und verteilte Zettel, Kuvert und Bleistift an alle Gäste. Dann erhob er seine Stimme und verkündete laut: “Wir wollen heute unsere Wünsche und Vorsätze für das neue Jahr auf einen Zettel schreiben und vergesst nicht euren Namen auf dem Kuvert”. “Anschließend sammle ich die Kuverts ein und bewahre sie bis zum nächsten Silvester auf”. “Wir wollen uns in dieser Runde im nächsten Jahr wieder treffen, dann öffnen wir die Kuverts und machen eine Bestandsaufnahme inwieweit ihr die guten Vorsätze und Wünsche umgesetzt habt”. “Eins ist noch wichtig, es sind eure eigenen guten Vorsätze und Wünsche und niemand anderer darf davon erfahren, auch nicht der Partner oder die Partnerin”.

Das war jetzt für Manuela zu viel. Sie rannte auf die Terrasse hinaus und Albert folgte ihr. Tränen standen ihr im Gesicht. Sie schaute Albert flehentlich an und sagte: “Wir haben uns geschworen, dass wir uns immer alles sagen und dass wir keine Geheimnisse voreinander haben werden”. Albert versuchte sie zu beschwichtigen und meinte, dass das ja alles nur ein Spiel wäre und ein großes Geheimnis würde er ja auch nicht auf den Zettel schreiben, da sie sich so gut kannten. Nachdem er Manuela fest in den Arm genommen hatte, beruhigte sie sich wieder und sie gingen zu den anderen Gästen zurück. Die ersten Kuverts wurden schon eingesammelt. Manuela und Albert wollten keine Spielverderber sein und füllten die Zettel mit ihren Vorsätzen und Wünschen für das neue Jahr aus, taten sie in das Kuvert und schauten sich dabei tief in die Augen, erzählten sich aber nichts darüber, was sie aufgeschrieben hatten. Den Rest des Abends und den Rutsch ins neue Jahr verbrachten sie in einer gedämpften Stimmung und sie waren froh, als alles vorbei war und sie nach Hause fahren konnten.

Im Auto auf dem Weg nach Hause wurde nur das allernötigste gesprochen. Irgend etwas war plötzlich zwischen sie getreten. Manuela wusste nicht was Albert sich vorgenommen hat und Albert wusste nicht was Manuela auf den Zettel geschrieben hat. Sie hatten jetzt ein Geheimnis. Das erste mal in ihrer Beziehung wussten sie, dass sie etwas vom anderen nicht wissen.

Manuela konnte keine Auge zu tun. So viele Gedanken kreisten in ihrem Kopf. Sie erinnerte sich an ihre Kindheit. Sie war damals acht Jahre alt, als die Mama ihr sagte, dass Papa geht und nicht mehr zurückkommt. Eine Welt ist für sie zusammengebrochen. Die Mutter war jetzt ihr einziger Halt und sie musste immer wissen wie es ihr geht. Die Angst war groß sie auch noch zu verlieren. Wenn sie von der Schule heim kam, griff sie als erstes zum Telefonhörer und rief die Mama bei der Arbeit an. Erst dann konnte sie beruhigt zu Hause sein. Schon damals hatte sie sich geschworen, dass sie nur einen Mann heiratet, von dem sie immer weiß wie er denkt und fühlt. Nur das gibt ihr Gewissheit. Und jetzt nach über zehn Jahren weiß sie nicht was er auf den Wunschzettel geschrieben hat. Wie war das bisher so einfach. Sie machten alles gemeinsam und sie wusste immer woran sie war. Es ist ein unerträgliches Gefühl nicht zu wissen was er in dem Augenblick gedacht hat. Sie könnte ihn natürlich fragen aber sagt er ihr dann wirklich die Wahrheit? Als sie so gegen Mittag erwachte, brummte ihr Kopf und sie wußte nicht ob der viele Sekt die Ursache war oder ob es die unterträglichen Gedanken waren, die sich wie ein Ring um ihren Kopf spannten. Sie streckte ihren Arm in Richtung Albert aus, ab da war nur das leere Bett. Das Herz klopfte rasend und schnell ging sie in Richtung Küche und mit einem Seufzer der Erleichterung sah sie Albert, der bereits den Tisch gedeckt hatte und sie mit einer Umarmung empfing. Alles Gute im neuen Jahr begrüßte er sie. Weißt du was ich auf den Wunschzettel gestern abend geschrieben habe? Er nahm sie ganz fest in den Arm und flüsterte ihr ins Ohr “weißt du dass wir schon über zehn Jahre zusammen sind”? Er war in so freudiger Erregung, dass ihr Herz zu pochen anfing. Aber diesmal nicht aus Angst, sondern vor Freude...

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Für Andere da sein

Eigentlich geht es Hannelore gut. Sie ist mit ihrer Jugendliebe verheiratet, hat zwei Kinder, die inzwischen schon sehr selbständig sind und wenn man sie fragt wie es ihr mit ihrem Hans geht, dann antwortet sie immer: “Wir lieben uns wie am ersten Tag”.

Und trotzdem fragt sie sich immer öfter: “War das jetzt mein Leben”. Mit Mitte 50 fühlt sie sich noch gut. Sie achtet sehr auf ihre Gesundheit und macht regelmäßig ausgiebige Spaziergänge. Das ist für sie eine große Kraftquelle um immer für ihre Familie da zu sein, Tag und Nacht. Während der ganzen Jahre war ihre einzige Motivation, dass es ihrer Familie gut geht. Und das hat sie sehr gut geschafft.

Aber jetzt fühlt sie sich immer öfter sehr einsam. Soviel für die Familie getan zu haben und jetzt ganz alleine zu sein, das hätte sie sich nie vorstellen können. Die Kinder sind aus dem Haus und Hans ist durch seine Karriere mit seiner Firma verheiratet, wie sie manchmal gegenüber ihrer besten Freundin bemerkt.

In ihrer Familie ist sie als einzige Tochter bei ihren Eltern aufgewachsen. Schon als Kind hat sie sich immer darum gekümmert, dass es ihren Eltern gut geht. Wenn die sich manchmal gestritten haben, dann war das für sie unerträglich und mit einer ganz großen Angst verbunden. Eine Trennung der Eltern wäre für sie das schlimmste was sie sich vorstellen konnte. Nicht dass Hannelore das nicht verkraftet hätte, aber die Mutter dann ganz alleine zu sehen in ihrem Leid, das wäre für sie nicht aushaltbar gewesen. Deshalb war ihr größtes Anliegen, dass Mama und Papa nie streiten sollen. So fühlte sie sich sicher und geborgen bei ihrer Familie. Diese Strategie gab ihr scheinbar recht. Ihre Eltern gehen auf achtzig zu und sind immer noch beisammen. Auch heute hat sie mit ihren Eltern noch mehrmals in der Woche telefonischen Kontakt. Es ist für sie selbstverständlich, dass sie immer für Andere da ist. Das gibt ihr die Sicherheit, dass sie alles getan hat für eine gute Beziehung.

Hannelore hat eine beste Freundin. Das Gemeinsame ihrer Freundschaft ist, dass beide die gleiche Maxime haben: Für Andere da zu sein. Manchmal lässt ihre Freundin durchblicken, dass sie sich sehr alleine fühlt, obwohl sie doch alles für die Familie tut. In solchen Situationen sagt Hannelore ganz klar: „Das ist bei mir ganz anders, meine Kinder sind immer für mich da“. Sie hat den Satz noch nicht ganz zu Ende gesprochen, da wird ihr plötzlich bewusst, dass es ihr große Angst bereitet, einmal im Alter ganz alleine zu sein. Und sie fühlt sich ja heute schon so alleine, obwohl sie fast täglich mit ihren Kindern telefoniert.

In so einer Situation überfällt Hannelore eine tiefe Traurigkeit. Wenn nur alle Menschen so wären wie sie, dann wäre das Leben viel leichter. Sie hat keine Ansprüche an das Leben, sie möchte einfach nur für andere da sein. Aber die Kinder sind groß und selbständig. Für wen soll sie noch da sein? Hans kommt immer ziemlich geschafft aus dem Büro und zieht sich am liebsten nach dem Abendessen zurück.

Eine große Leere macht sich in ihr breit. Hannelore hält es zu Hause nicht mehr aus und macht einen ausgiebigen Spaziergang, um darüber nachzudenken, wie es bei ihr weitergehen soll. Ihr Weg führt sie durch ein Waldstück zu einer kleinen Kapelle. Hier geschieht für Hannelore etwas Seltsames. Auf einmal spürt sie eine große Kraft und Stärke. Geborgen im Innenraum dieser Kapelle gehen ihr viele Gedanken durch den Kopf. Sie sieht sich als junges Mädchen wie sie im Chor gesungen hat. Singen war ihre große Leidenschaft.

Durch die jahrelange Verpflichtung der Familie gegenüber, hat sie dieses Hobby nie ausleben können und ein großer Wunsch steigt in ihr hoch wieder zu singen. Zweifel machen sich in ihr breit. Darf sie das auch? Ein Hobby für sich ganz alleine haben? Sowohl erfüllt als auch zweifelnd tritt Hannelore den Rückweg an und kommt zu der Entscheidung, dass sie sich im Chor anmeldet.

Dort wurde sie als neues Mitglied gleich gut aufgenommen. Die Proben für das Weihnachtsoratorium haben bereits begonnen. Hannelore spürt beim Singen wieder ihre ganze Kraft und Freude breitet sich in ihr aus. An der Weihnachtsaufführung singt sie mit. Hans und ihre Kinder sind unter den Besuchern und Hannelore fühlt sich in diesem Moment ihrer Familie so nah wie schon lange nicht mehr.

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Der traurige Junge

Es war einmal ein kleiner Junge, der liebte seine Eltern sehr und seine Eltern liebten ihn sehr. Seine Mama war die einzige, die ihn verstand. Er musste nämlich immer auf den Boden schauen. Niemand wusste, warum das so war. Nicht einmal er selbst konnte sich das erklären. Für ihn war es ganz normal und er konnte auch gar nicht verstehen, warum die anderen ihn darauf manchmal ansprachen. Auch seinem Lehrer in der Schule ist das schon aufgefallen.
Zum Glück hat er ganz liebe Eltern, die ihn deswegen nicht tadelten. Der kleine Junge war einfach zufrieden wie er war.
Aber eines Tages hat sich alles verändert.
Er hatte nämlich einen Traum. Er war in einer Kugel, wo es ganz warm war. Wie im Schlaraffenland. Er brauchte sich um gar nichts zu kümmern. Er hatte alles was er brauchte. Und er war gar nicht alleine. Ein kleiner Freund, der genau so aussah wie er, schwamm in der Kugel mit ihm umher. Sie mochten sich so sehr, dass sie glaubten, dass sie gar nicht ohne den anderen leben könnten. Doch dann kam etwas ganz Unvorhergesehenes. Der kleine Freund, der genau so aussah wie er, offenbarte ihm, dass er sich bald verabschieden müsse. Das machte den kleinen Jungen sehr sehr traurig. Der kleine Freund wurde mit der Zeit immer dünner und dünner und sagte zu dem kleinen Jungen: Ich habe dich bis hierher begleitet. Jetzt bist du selbst in der Lage deinen Weg zu gehen. Ich muss zurück zu den Engeln, wo es mir sehr gut gehen wird. Von dort aus kann ich dich sehen und bin immer bei dir. Du kannst mir eine große Freude machen, wenn du es dir auch gut gehen lässt. Und denke immer daran, im Geiste bin ich immer bei dir.

Als der kleine Junge aufwachte, ging er zu seiner Mama und zu seinem Papa ins Schlafzimmer und kuschelte sich ganz fest an sie und freute sich so sehr, dass er nicht alleine war.
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